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Prolog: Fenstersommer

Folien und Durchlässigkeit

Als das Schloss in Sztynort (ehm. Steinort) 2009/10 den Besitzer wechselte, wurden als erstes die schwarzen Folien vor den Fenstern des Gebäudes durch durchsichtige ersetzt. Aus denkmalpflegerischer Sicht war dies ein Akt der Ersten Hilfe, einen Augenblick vor der vollständigen Zersetzung des Gebäudes von innen. Im Schutz der erblindeten Fenstern hatten Wesen der Unterwelt begonnen, die Räume des Schlosses zu erobern: Ohne Wärme, Licht, und Luft wurden Innenräume klamm und Schimmel, Moos und Pilze, all die Lebewesen, die ein solches Mikroklima lieben, bahnten sich ihren Weg durch die Böden oder taten sich gütlich am zerfallenden Holz.

Kaum waren die Fenster wieder zu durchlässigen Mittlern zwischen dem Innen und dem Außen geworden, verließen diese Unterweltgeschöpfe das Schloss ohne Aufhebens zu machen, ließen es jedoch schwer gezeichnet und waidwund zurück.

Haus-öffnungen

Gibt es einen wesentlichen Unterschied zwischen dem technischen und einem psychologischen Daseinsgrund für ein Fenster? Brauchen nicht beide, Haus und Bewohner, diesen Austausch von Luft und Zufuhr von Licht, zum Überleben, um sich nicht in Wohlgefallen aufzulösen? Gehören nicht Haus und Bewohner untrennbar zusammen? Ist nicht auch das Haus lebendig, atmend, das mit seinen Fenstern, mal mehr offen, mal geschlossen, uns nährt und unsere Exkremente ausspeit?

Fenster nehmen auf, sie schließen aus und sind verletzlich gleichermaßen. Sie sind beweglicher, vielseitiger und weniger eindeutig als die zweite Öffnung des Häuslichen – die Tür. So viel mehr Raffinesse und Nuance sind im Fenster denn in der Tür. Um mit ihm umzugehen braucht es wahre Handwerkskunst.

Keine Türen

Dem Fenster wohnt etwas Flüchtiges inne. Wir lebende verlassen Häuser durch Türen, doch lassen wir die Seelen Verstorbener durch Fenster entweichen und lassen auch den neuen Morgen dort hereinkriechen. In Ausnahmesituation bewegt sich unsere Aufmerksamkeit weg von der Tür, hin zum Fenster. Selbst wenn wir Türen fest verschließen müssen, bleiben uns die Fenster, die uns physisch und auch metaphysisch mit der Außenwelt verbinden: Am 21. Juli 1944 sprang Heinrich von Lehndorff, Jugendmeister im Hochsprung, Erbe des Schlosses Steinort (heute Sztynort) und Mitverschwörer in der “Operation Walküre”, aus einem Fenster im Ersten Stock des Schlosses in den Park und entkam so seinen Verfolgern. In die Enge getrieben durch das Eintreffen der Polizeiautos und angesichts des sicheren Todesurteils nach dem gescheiterten Attentat auf Hitlers Leben war sein spontaner Impuls aus dem Fenster zu springen und fortzulaufen.

Fenster sind nicht dafür vorgesehen, von Menschen durchschritten zu werden. Nur bestimmte Dinge sollten durch Fenster ein- und austreten, die ätherischen, körperlosen, nicht solche von dichter Beschaffenheit. Und so schützen uns Fenster nicht nur vor Regen und vor Sturm, sondern auch vor uns selbst. Sie warnen uns: Schau ruhig hinaus, aber geh keinen Schritt weiter. Die es dennoch tun, überschreiten eine Grenze, sind auf der Flucht, verstrickt in dunkle Geschäfte, sind verzweifelt, manchmal auch verliebt. So wie Teenager an der Schwelle zum Erwachsenwerden, die Gefallen daran finden, durch Fenster zu klettern oder auf Fensterbänken zu sitzen. Fenster können zu verrucht-romantischen Versuchungen mutieren, wenn Gebäude verlassen und unbeaufsichtigt sind: Das nächtliche Einsteigen durch ein Fenster in verlassene Gebäude ist zu einer Spielart des Ruinen-Tourismus geworden, die auch in Sztynort ihre Anhänger gefunden hat.

Sicherheitsabstand

Schließlich sind Fenster in den vergangenen Wochen und Monaten der Corona-Pandemie zu einer der letzten rechtmäßigen Verbindungen zur Außenwelt geworden, zum schützenden Mittler im Spannungsfeld von Nähe und Abstand. Ohne jede medizinische Logik – schließlich ist die obere Körperhälfte mit Mund und Nase eher ansteckend als die untere – haben die Menschen es vorgezogen, ihre Lieben durch Fenster in sicherem Abstand zu betrachten. Um ihre Angehörigenaus sicherer Distanz zu sehen (2)nutzten sie Fenster, nicht die Türen. Ganz als lauerte unter der Türschwelle die Gefahr, man könne den Sicherheitsabstand doch missachten, man könne der Versuchung einer offenen Tür doch nachgeben und doch kurz ins Haus des anderen hineinkommen. So war es das Fenster, durch das wir sprachen, lachten, riefen und uns sahen.

Schau-Fenster

Wenn sich Kinder ihre Nasen an den Fenstern von Spielwarenläden plattdrücken oder Nachbar:innen zum Fernglas greifen, um zu sehen, was sich im Haus gegenüber tut, sind Fenster zum “Schau”-Fenster für die Öffentlichkeit geworden, mal mit Absicht, mal zufällig. In den vergangenen Monaten der Pandemie waren sie all dieses: Schauplätze von Hoffnung und gemeinschaftlicher Kunst, Spiegelbilder für den Stand des Staates und „Schwarze Bretter” der Gemeinschaft, zeigten uns den Grad von Emotionen und gesellschaftlicher Spannung. Sicherheitshinweise, Anzeigen zur Schließung von Geschäften, Kinderzeichnungen und Regenbogenbilder in Schulen, Kindergärten und privaten Häusern, liebevoll arrangierte Teddybärfamilien auf Fensterbrettern, all dies wurde in Fenstern zur Schau gestellt. Als zwischenzeitlich Kulturinstitutionen schließen mussten, wurden Fenster zur Bühne für Musiker und Darsteller, um dort für Publikum zu spielen. Sie gaben einen Rahmen für das was zu sehen und zu hören war. Im traditionellen chinesischen Verständnis sind Fenster nicht einfach Öffnungen für Licht und Luft, sondern Bilderrahmen für die Welt dort draußen, den Garten. Das Fenster ist es, das unserem Blick die Richtung gibt, es führt Regie darüber, wo wir stehen in der Welt, was wir sehen, und was nicht – im Drinnen wie im Draußen.

Versprechen des Möglichen

Fenster zu öffnen und zu schließen findet seine analoge Entsprechung in der Praxis der virtuellen Welt. Bei der Entwicklung des Personal Computing wurde das Fenster als zentrales Element in die digitalen Architektur übertragen. Seitdem haben sie unsere Erfahrung des Digitalen geprägt, erst recht seit man mit ihnen das Internet durchstreifen kann. Web-basierte Fenster eröffnen uns Eintritt in ein unbegrenztes Überall, lassen uns Zeit und Raum durchreisen, sogar die Phantasie von anderen. Wie barocke Illusionsgemälde verführen sie das Auge mit der Verheißung des Unerreichbaren. Sind sie am Ende trügerische Fallen? Oder ist es eher so, dass schon allein ihr Versprechen eine Form der Erfüllung von jenem ist, was sie uns versprechen? Dass sie uns gerade ausreichend Imagination liefern, um unsere Vorstellung des letztendlich Möglichen zu nähren? Haben wir nicht vielmehr, weil wir sie Fenster nennen, trefflich definiert, wie fundamental begrenzt die digitale Architektur doch ist: Es fehlt nämlich an Türen, durch die wir unsere Körper ganz hindurchbewegen könnten. Es bleibt also dabei, dass wir in Räumen an einer ungeklärten Schwelle zwischen Hier und Dort verharren müssen.

Summer of Windows in Szytnort (Steinort)

Das VI. Schloss-Festival wird als Summer of Windows/ Lato Okien, als Fenstersommer eröffnet. In diesem Jahr des pandemiebedingten Dazwischen-Stehens verkörpert das Fenster einen passenden Rahmen, um die Schlossgemeinschaft zu feiern. Es soll zur künstlerischen Auseinandersetzung und zum Erzählen von Geschichten inspirieren, Stoff liefern für Auseinandersetzungen und darstellerische Experimente. Der Fenstersommer wird auf unserer dafür eingerichteten Webseite https://2020.stnort.orgund vor Ort, am Schloss von Sztynort (ehem. Steinort), stattfinden.

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